Freitag, 11. Dezember 2015

KULTUREN DER ERINNERUNG

Frau ist am Wintergartengenusswerk. Obwohl alle Pflanzen über den Sommer wieder enorm gewachsen (um nicht zu sagen "ins Kraut geschossen") und dick und fett geworden sind, ist dieses Jahr erstaunlicher Weise mehr Raum in ihrem Winterquartier, das zugleich mein Lieblingsaufenthaltsraum ist.

Jedes Jahr wird die Schlepperei schweißtreibender, jedes Jahr kracht das Kreuz noch ein bissl lauter, jedes Jahr ist der Wintergarten noch ein bissl voller. Aber, oh Wunder, dieses Jahr nicht. Was an den diesmal besonders rigoros durchgeführten Schnittmaßnahmen liegt. Da gilt es, mich bei den fast schon brutal reduzierten Pflanzen zu entschuldigen.


Zum Glück kann ich sie persönlich ansprechen, denn meine Kübelpflanzen haben fast alle einen Namen. Meist heißen sie gleich wie ihre edlen SpenderInnen, die teilweise bereits ein ganz spezielles Verhältnis zu Pflanzen entwickelt haben - unter der Erde. 


Durch die Pflanzen, die sie mir hinterlassen habe, besteht eine besondere, täglich gepflegte Verbindung. Aber nicht nur Verblichene werden mir durch meine Pflanzen nahegebracht, auch an viele quicklebendige Familienangehörige und FreundInnen denke ich beim Pflegen der von ihnen geschenkten Pflanzen. Wie zum Beispiel die Mandarine Barbara, die gerade das ungewöhnlich warme Wetter nutzt, auf ihre Ruhepause pfeift und heftig zu blühen geruht.


Ich stelle jetzt ein paar weitere meiner mehr oder minder grünen Lieblinge vor und führe Bilder aus dem mich so beglückenden Wintergarten vor Augen. Fast alles aktuelle Aufnahmen, ein paar Photos von den letzten Jahren habe ich aber auch reingemogelt. Weil halt derzeit Ruhezeit ist und die vorhandenen Blüten und Früchte zwar erhebend und überraschend, aber doch der Jahreszeit entsprechend nicht überschäumend sind.


Mein ganz besonderer Liebling ist Mami, eine prachtvolle Hoya, die als zweiblättriger Ableger einer im Doppelsinn der Bedeutung Mutterpflanze vor ewigen Zeiten zu mir einzog. Müsste vor fast 40 Jahren gewesen sein. Jahr für Jahr fordert sie meine Kreativität  heraus, denn sie braucht ein transportables Klettergerüst, damit sie den Sommer im Freien verbringen kann. 
Auch für körperliche Aktivität sorgt sie, muss ich sie doch dann und wann entwirren und auf ein neues Gerüst fädeln. So zum Beispiel, als sie im Mai 2013 von einem Sturm mit Hagel arg ramponiert und in die Knie gezwungen wurde. Das folgende Bild belegt das Drama.


Blüht sie dann, so werden exquisite Kindheitserinnerungen wach. Den Tropfen süßen Nektars zu schlecken war mein kindliches Entzücken. Ob ich mit ihm die Liebe zu Pflanzen eingesaugt habe? Egal. 


Dieses Jahr habe ich die Schere angesetzt. Und zwar so, dass ich selbst erschrocken bin. Die vorher mehr als zweieinhalb Meter hohe Pflanze mit ihren zahllosen Ranken ist jetzt zum (aus Scham photographisch nicht dokumentierten) Bodendecker verkommen. Sie hat es mir (noch?) nicht übel genommen und als Wiedergutmachung zermartere ich mir schon länger das Hirn, wie ich ihr eine entsprechende Stütze für ihre Wiederauferstehung zukommen lassen kann. Im Frühjahr kann ich sie dann endlich mit frischer Erde verwöhnen, was bei ihrem zuletzt gezeigten Umfang ohne Verletzungsgefahr nicht möglich war.


Aber weiter zu den anderen Pflanzen. Da wäre zum Beispiel Tante Trude. Als dickfleischiges einzelnes Blatt ebenfalls vor Jahrzehnten von einer inzwischen fast 100jährigen Tante in meine Obhut gegeben, ist auch dieser Geldbaum inzwischen eine Herausforderung beim Transport. Einmal unvorsichtig angefasst und - plumps - schon liegt ein dicker Zweig am Boden. Außerdem ist Tante Trude sehr vermehrungsfreudig und jedes Blatt, das auf eine halbwegs fruchtbare Unterlage fällt, beginnt sofort mit dem Wachstum. 


Ich spreche übrigens lieber vom Geld- als vom Lebensbaum, denn ich gestehe: ich bin etwas abgergläubisch und es könnte mich irritieren, wenn Tante Trude als Lebensbaum dahingerafft würde. Lieber Leben als Geld, aber lieber Geld- als Lebensbaum.

Dieses Jahr hat mich Tante Trude extrem beglückt. Sie blüht, erstmals! Nur eine kleine Dolde, wie man oben sieht, aber immerhin.


Bernd wiederum, ein Epiphyllum laui (hier seine beeindruckenden sommerlichen Blüten) wurde letztes Jahr drastisch reduziert. Über ihn kamen die Schnecken und seine Schönheit hatte arg gelitten. Also schnitt ich im Frühling die intakten Blätter aus dem riesigen Stock und setzte sie in Substrat. Genau so wie ich den Urbernd zum Wachsen gebracht hatte. 


Er wurde mir von seinem Namensgeber, einem passionierten Kakteenzüchter, als blühender Zweig überreicht mit dem Zusatz: "Wenn er verblüht ist, kannst ihn wegwerfen - oder einsetzen." Eigentlich hatte ich dem edlen Spender nämlich gesagt, er möge mich bitte nicht mit seiner Kakteen-Lust anstecken, denn der häusliche Platz für Pflanzen war damals schon überbelegt. Aber wer kann schon eine Pflanze wegwerfen? Ich nicht.


Zu Bernd gesellte sich dieses Jahr Paula. Sie blüht im Unterschied zu ihm rot und man sieht ihr kaum an, dass sie erst in diesem Frühling in Form von drei etwas verknautschten Trieben bei mir eingezogen ist.


Zwei sich liebenden Paaren ist das gemeinsame Altern leider nicht gegönnt. Olli, der inzwischen riesige rosa Oleander, trauert um seinen Gefährten Stan und Boogie wiederum, die ebenso ausladende lila Bougainvillea wurde von Woogie verlassen. Woogie, eine dunkelrote Bougainvillea aus Griechenland, konnte sich nie an das nördliche Klima gewöhnen und verzog sich schon nach dem ersten Sommer, Stan raffte ein überraschend eintretender starker Frost vor ein paar Jahren dahin. 


Die umwerfend originellen Namen bekamen sie natürlich nicht von irgendwelchen Spendern, die ergaben sich schlüssig aus den Pflanzennamen. Sie sind eigenhändig gekaufte Teile. Wobei ich anmerken möchte, dass ich Pflanzen aus Blumengeschäften kaum je und wenn, dann immer nur im Kindheitsstadium adoptiere und mit Vergnügen die Geduld aufbringe, sie aus ihren mit Wachstumshemmern vollgesaugten Kinderschuhen herausschlüpfen und sich zu Pracht und Größe entwickeln zu sehen.


Dem Problem der doppelt zu vergebenden Namen bei Zweitgeschenk der selben Person begegne ich mit der Vergabe von Familiennamen. So gibt es Herrn Lang, scherzhaft auch Langlang genannt. Eine beeindruckend und nur eine Nacht blühende Königin der Nacht (Selenicereus Grandiflorus), die durch die Namensgebung der Transsexualität ein würdiges Bedenkmal bereitet. Frau F. wiederum ist eine von selbiger von einer Reise mitgebrachte Opuntie. Beide (Pflanzen, aber auch die Schenkenden) sind wohlauf, obwohl ich mit ihnen (den Pflanzen, nicht den Schenkenden) per Sie und nicht per Du bin.


Nach den edlen Spendern benannte Pflanzen gibt es noch viele in meinem Wintergarten. Zum Beispiel Mariano, der Gummibaum und Cosmin, die Dracaena, die beide wegen Abwanderung der früheren Zieheltern zu mir in Dauerpflege kamen. Letzterer musste, Drachen hin oder her, diesesmal ebenfalls einen Radikalschnitt ertragen.


Oder Michi, die Yucca, die schon oft brutal in Stückchen geschnitten wurde und deren daraus vegetativ entstandene Kinder nun zahlreiche Wohnzimmer im In- und Ausland besiedeln. Da ist auch Teresa, die Schefflera actinophylla, beide als 1 Europflänzchen von den Spendern vor Jahr(zehnt)en gekauft und dann aus unterschiedlichen Gründen meiner Obhut überantwortet. Statt die blattlosen Relikte ihrer demnächst wieder auferstehenden Schönheit zu zeigen, krame ich lieber zwei Bilder von Eric, auf den gleich die Rede kommt, heraus.


Pauline, die von den Kanaren mitgebrachte Agave, trotzt dem widrigen Umstand, dass ich sie in einem viel zu kleinen Topf belasse, um ihrem Wachstum Einhalt zu gebieten und Eric, die Kamelie, zum Beispiel wird heiß geliebt, obwohl ihr Spender meine Sympathie gründlich verspielt hat. Und da wären noch Willi, Peter, Anita und viele andere zu erwähnen, die mich seit Jahren treu begleiten. 


Auch die erst im Herbst eingezogenen Töpfchen Asparagus, die auf die Namen Iris, Lukas, Oskar und Laura hören und durch das Fenster aus dem Wohnzimmer rausschauen, sind mir inzwischen ans Herz gewachsen. Ich verwechsle sie leider noch immer, was sie mir aber nicht übel nehmen.


Die Orchidee Norbert kuschelt sich an ihre Kolleginnen. An Anna und Gerlinde, an den kleinen Ronald und an Karl. Und alle blühen sie überwältigend. Fast ohne Pause.


Ich muss es gestehen: manches klingt wenig charmant. Tante Ellis Elefantenohr zB hat, so ausgesprochen, einen diskriminierenden Unterton. Und Onkel Rudi (eine Fingeraralie) brachte Unfrieden in meine damals junge Ehe. Als ich einer glühenden Verehrerin des Aralienüberreichers namens Rudi, die blöder Weise eine sehr nahe Angeheiratete war, arglos in besorgtem Ton berichtete: "Onkel Rudis Triebe kümmern", war diese wochenlang nicht nur schockiert, sondern auch ordentlich sauer auf mich. Unser Verhältnis hat sich danach nie wieder gebessert. So greifen Pflanzen in mein Leben ein, in diesem einzigen Fall dramatisch und beziehungszerstörend.


Offensichtliche Verbindungen zwischen den Pflanzenschenkenden und deren Gaben gibt es auch gar nicht so selten. So zum Beispiel ist Iannis, ein Granatapfelbaum aus Rhodos, im Winter ebenso so kahl wie sein griechischer Spender. Im Unterschied zu diesem wächst ihm aber jedes Frühjahr das Verlorengegangene nach. 


Die Kaktee (Mammillaria elongata v. rufocrocea) Pauline wiederum, die inzwischen zu einer Kolonie angewachsen ist, gleicht in ihrer Unnahbarkeit der selbstkritischen Namenspatronin, die nach einer langen Schweigephase den damals winzigen Kaktus mit einem Karterl überreicht hat, auf dem sie die Kontaktpause über die Sprache der Blumen und den Grund ihrer Pflanzenwahl erklärte. 


Dann sind auch oft Zusammenschlüsse zu beobachten. Tante Trude hat ihre Kinder unter anderem Cosmin zur Adoption frei gegeben (zwei kleine Geldbäume wachsen zu Füßen der Draecena), Boogie (die Bougainvillea) krallt sich alljährlich in Susi, den roten Hibiskus, fest. 


Sie waren trotz jährlich durchgeführter Schnittmaßnahmen fast unzertrennlich, zumindest unzertrennbar. Weshalb ich auch bei ihnen im Herbst die Schere gar so massiv zückte.


Nun aber freue ich mich ganz besonders über die Blüte der Dicken Oma. Eine Clivia, die das Namens-Los meiner geliebten Großmutter auf ihren starken Blättern tragen muss und von diesem doch etwas uncharmanten Namen ebenso unbeeindruckt zu sein scheint wie meine arme Großmutter. 


Um meine Großmamas unterscheiden zu können, habe ich nämlich mit kindlichem Scharfsinn das herausragendste (sic!) Unterscheidungsmerkmal herausgegriffen: die Figur. Heute frage ich mich, was wohl meiner Familie eingefallen ist, den Namen "Dicke Oma" freudig zu übernehmen und der armen Frau bis an ihr Lebensende diesen Stempel trotz sich wandelnder körperlicher Ausmaße raufzudrücken.


Aber es gibt auch Namenlose. Die Zitrone zum Beispiel, deren Wuchsform mehr als eigenwillig ist, die aber jeder Schnittmaßnahme durch Blüten und/oder Früchte entkommt. Ich sollte ihr einen Namen geben. Vielleicht ist ihr Erscheinungsbild ein Protest gegen das fehlende Patronat. Sie ist nur schon so ewig lang bei mir, dass ich mich nicht mehr erinnere, wer sie mir geschenkt hat. So was Blödes!


Die Chilis, die ich dieses Jahr wieder aus dem Hochbeet ausgegraben und in die relative Wärme (die Temperatur des nicht geheizten Raums sinkt selbst an bitter kalten Tagen nie unter 0 Grad, im oberen Bereich nie unter fünf Grad) gebracht habe, teilen das Schicksal der Namenlosigkeit. So weit gehe ich dann doch nicht, dass ich temporäre Gäste auch noch benenne. Obwohl... Eine aus Samen gezogene und derzeit bei mir nur auf Winterurlaub befindliche heißt Kathi.


So pflege ich denn meine Erinnerungskulturen und zelebriere damit meine Kultur der Erinnerung. Ganz egal, wie kalt es in der Früh ist, meinen Morgenkaffee nehme ich immer im Wintergarten zu mir und ich glaube, den Pflanzen ginge etwas ab, wenn ich in meiner Morgenmuffelei nicht erscheinen würde.


Wenn ich dann abends am Tisch in der Küche hinter der Glastüre sitze, genieße ich den Ausblick auf die manchmal kerzenbeleuchteten Benamsten und Unbenamsten. 


Die Besuche des Rotkehlchens, das an den warmen Herbsttagen die offene Türe genutzt und die ordnungsgemäße Unterbringung seiner sommerlichen Gefährten inspiziert hat, wurde seltener und wird in nächster Zeit ganz ausbleiben. Aber ich schaue ihm und den Baumläufern, den Meisen, den Amseln und dem Specht vom Wintergarten aus gerne zu, wie sie sich an den Futterstellen im und unterm Zwetschkenbaum rund fressen.

So helfen mir denn die Pflanzen über die oft graue, kalte und kahle Zeit. All ihren Spendern bin ich dankbar, denke gern an sie. Nur für weitere Andenksel ist leider kein Platz mehr. Was nicht heißen soll, dass neue Freundschaften nicht mehr geknüpft werden können - ich trage sie doch eh alle in mir.

2 Kommentare:

  1. Das ist unglaublich schön! vorallem dein Geldbaun hat mich umgehauen

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    1. Danke!
      Der Geldbaum ist ja wirklich schon dick und fett und üppig. Obwohl er dieses Jahr beim Reinräumen wieder einen wichtigen Ast verloren hat. Aber er muss quer durch den Garten und dann über eine Treppe geschleppt werden, da muss er leider regelmäßig Federn... äh... Äste lassen. Dafür hat ihm der (neue) Sommerplatz so gut getan, dass er blüht. Man kann halt nicht alles haben. ;-)

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