Frau war wieder einmal am Reisewerk. In Florenz, zum puren Vergnügen. Natürlich mit Kamera. Und jetzt ist Frau am Bildbearbeitungswerk und ertrinkt förmlich in den Wogen der über sie einstürzenden Photomassen.
Der Zweck der Reise war zwar ein ausgedehnter, dreitägiger Photowalk; die Menge der Photos ist dadurch aber nicht wirklich zu "rechtfertigen". Obwohl ich weiß, wieviel Freude mir der Akt der Photographierens macht, welcher Reiz vom Sehen und Festhalten ausgeht. Das lasse ich hier (vorerst) unhinterfragt links liegen.
Was mir jedoch intensiv durch den Sinn geht, ist der Wert, den die gemachten Bilder für mich haben.
"Fotografien sind
tatsächlich eingefangene Erfahrung, und die Kamera ist das ideale Hilfsmittel,
wenn unser Bewußtsein sich etwas aneignen will." schreibt Susan Sontag in "Über Fotografie".
Damit bin ich nun doch wieder beim Photographieren selbst. Ja, es geht um Aneigunung. Aber hat dieses Sammeln des bewusst Angeeigneten, der subjektiven Wirklichkeit, für mich den Wert, mir später diese unbeschwerten Stunden leichter zurückrufen zu können?
Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen... Von einer schon vor Jahrzehnten gestorbenen, mir sehr lieben alten Frau, die, vollkommen taub, kaum Möglichkeiten der Kommunikation mit anderen Menschen hatte. Auch Zerstreuung wie Radiohören und der akustische Zugang zu ihrer umfassenden Sammlung von Schallplatten war ihr nicht mehr gegeben. Sie lebte allein, denn sie hatte alle Familienmitglieder und FreundInnen überlebt. Neue Freundschaften waren - über ein freundliches Nicken hinaus - nicht mehr zu knüpfen. Zu hoch war die Schwelle der Kontaktaufnahme für die Menschen um sie herum. Aber sie haderte nicht mit dieser weitestgehenden Isolation, wofür ich sie bewunderte.
Wir lernten, unsere Gedanken auszutauschen. Teilweise schriftlich, zunehmend aber mit Gesten und Mimik und wachsendem gegenseitigem Einfühlungsvermögen.
Eines Tages fragte ich sie, die damals kaum dem Teenager Alter entwachsen war, wie sie denn mit den langen Abenden und Nächten, die ihre Schlaflosigkeit ihr bescherte, umgehen könne. Da tastete sie sich zu ihrem Lieblingsplatz am Fenster und holte ein kleines Heft, das griffbereit neben ihrem Lehnsessel lag.
Es war aufgeschlagen nicht größer als ihre Handfläche. Als sie es bedächtig öffnete sah ich, dass es mit feinster, winziger Schrift vollgeschrieben war. Mit einer nadelfeinen Bleistiftspitze gleichmäßig die Wörter und Zeilen so dicht an dicht gesetzt, dass meine jungen Augen überfordert waren. "Das sind all die Reisen, die ich in meinem Leben gemacht habe." erklärte sie mir. "Ich war immer gern unterwegs und habe viele ferne Länder kennengelernt. Jeden Abend mache ich mich auf zu einer neuen Entdeckungsreise. In Gedanken. Da schlage ich mein Heft auf und der Ort, auf den mein Blick fällt, ist mein Ausgangspunkt. Inzwischen brauche ich das Heft nur mehr, um diesen auszuwählen. Ich kenne sie schon alle auswendig."
In dem akribisch genau geführten Heft hatte sie jede einzelne Station ihrer Reisen festgehalten. Keine zusätzliche Erklärung, keine Geschichten, keine Bilder oder Reiseandenken. "Die brauche ich nicht, ich erinnere mich auch ohne den Firlefanz genau." war ihre Antwort auf meine erstaunte Frage, wie sie sich denn Details an Reisen, die teilweise mehr als 80 Jahre zurücklagen, ins Gedächtnis rufen könne. "Man muss nur alles intensiv erleben, dann geht das schon."
Und da sitze ich nun mit meinen zahllosen Bildern und schwelge bereits ein paar Tage nachdem ich sie aufgenommen habe, in Erinnerungen. Sehe das starke Jännerlicht, das auch am Abend so geblendet hat, dass ich wie blind durch die Gassen geschlendert bin.
Von den drei phänomenalen Stürzen, die ich während der kurzen Zeit in Florenz hingelegt habe, gibt es keine Bilder. Ist auch nicht nötig, denn die werden mir derzeit durch blaue Flecken der Sonderklasse vor Augen geführt und es ist fast anzunehmen, dass mein Mitreisender mich immer wieder damit aufziehen wird. Wohl längere Zeit lang. Nicht nur an unseren kongenialen Synchronsegler, als wir uns kaffeegierig mit einem Hechtsprung vor ein Straßenkaffee katapultiert haben, großzügig die Gehsteigkante nicht beachtend. Solche Highlights vergisst man nicht so schnell.
Für alles andere jedoch brauche ich meine Bilder. Nicht nur die "inneren", die in meinem Kopf, auch die "äußeren" auf diversen Festplatten gesicherten. Sie verbinden sich und frischen meine Erinnerung auf, halten sie noch lebendiger - und strukturieren sie.
Außerdem mag ich sie einfach gern, meine festgehaltenen Eindrücke, auch wenn es sich wie in diesem Fall (fast) "nur" um Laternen und die Schatten, die sie werfen, handelt.
Vor allem aber bin ich nicht bescheiden genug, mich mit einem kleinen Heft zu genügen.
Von dieser Frau habe ich übrigens kein einziges Bild gemacht und trotzdem ist sie mir so nah, sind die Begegnungen mit ihr in mein Gedächtnis eingegraben. Sie hat mir unendlich viel gegeben.
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