Sonntag, 16. Oktober 2011

JE VOUS EMBRASSE, MONSIEUR DEPARDIEU!

Hoch an der Zeit, gnadenlos ehrlich zu sein. Auf den Tisch zu legen (bzw. in die Tastatur zu hämmern), dass ich nicht so ganz über den Eitelkeitsdingen stehe, wie es mir lieb wäre und ich mir und vor allem anderen weismachen will.
So sehr ich es mir auch einreden möchte: Ich bin nicht frei von den gängien Schönheitsnormen und dieselben signalisieren ohn Unterlass, dass sich das Aussehen im Alter ja doch nicht wirklich verbessert.
Ja, es gibt schöne alte Gesichter. Alte Menschen strahlen Leben und Zeit aus – wenn sie denn wirklich gelebt haben und das Ablesen zulassen. Diese Gesichter wecken Interesse, sind interessant.
Interessant… Vor Jahren verfasste ich mit einer Kollegin eine vergnügliche Arbeit zum Thema Frauen, Schönheit und Alter. Da legten wir dann auch einige Portraits von alten Frauen bei und fragten, wer besonders ansprechend sei. Absolute Favoritin war Simone Signoret. Konventionell betrachtet versoffen, verlebt. Ein Gesicht wie ein aufgequollenes Karstmassiv. „Beeindruckend, toll, das Gesicht hat was! Sehr interessant.“ Darin war sich die Mehrzahl der Interviewten einig.
Wenig später jedoch verfiel die Begeisterung der Befragten für dieses beeindruckende Gesicht drastisch. Die Frage lautete nämlich diesmal: wie welche dieser Frauen wollen Sie im Alter aussehen. Tja. Interessant auszuschauen ist nicht sehr begehrt.
Natürlich gebe ich vor, weit über all diesen Niederungen der Eitelkeit zu stehen. Das gebietet mein mühsam aufgebautes Image. Daher lege ich höchsten Wert darauf, diskret und unauffällig Zensur über jene Bilder zu verhängen, auf denen ich mir nicht gefalle – und der Prozentsatz wird immer kritischer.
Was das alles mit Gérard Depardieu zu tun hat?
Vor einem Jahr erschütterte mich ein Bild von ihm auf der Titelseite des Zeit Magazins bis in die Knochen. Im klassischen Sinn schön war er ja nie. Aber er strotze vor Virilität, was ihn einen kräftigen Hauch von Erotik ausstrahlen ließ.
Mein visueller Kontakt mit dem privaten Depardieu dürfte schon eine Weile her gewesen sein und in Unterhemd hatte ich ihn noch nie vorher zu Gesicht bekommen. Bei seiner Rolle als Obelix, die er in weiten Strecken mit entblößtem Oberkörper spielte, ging ich von einer begnadeten Kostümbildnerin aus. Nach der einschneidenden Bildbetrachtung mutmaße ich, dass sie vielleicht dabei doch nicht so viel Arbeit hatte wie angenommen.
Das Photo, das mir in die Knochen fuhr, zeigte eine Mischung zwischen betagtem Gerd Fröbe und Quasimodo, und aus dem fleckigen ärmellosem Unterhemd in zartem hellblau quoll in Fülle ohne Hülle Faltiges. Höchst unviril. Das Glas bestimmt köstlichen Rotweins in seiner Hand konnte da auch nicht viel retten.
Die restlichen Photos legten dann alles bloß, was noch an Begehrlichkeiten der Schönheitschirugie aufzubieten ist: Schlupflider, Trippelkinn, Stiernacken, schütteres Haar, schlaffes Fleischliches im Überfluss.

Einfach grandios! Diese Bilder stoßen mich an meine Grenzen. Bin erbost, dass sich jemand meiner Vorstellung so schamlos entziehen kann. Depardieu als alter Mann im Östrogentaumel? Gibt es nicht, darf nicht sein. Bin gleichzeitig fasziniert, dass er sich dem - mit einigem guten Willen zu kopierenden – Erscheinungsbild der Reichen, Schönen und ewig Jungen so dreist entzieht. Flott tirilierend auf diesen Schein pfeift.
Muss man dafür ein Weingut samt Schloss in Frankreich besitzen? Oder Weltstar sein? Oder reicht es, Mann zu sein?
Der dritte Blick reißt mir den gängigen Schleier der Ästhetik von den Augen. Ich sehe nichts Schlaffes mehr, sondern pralles Leben. Keine Schlupflider, sondern klare, scharfe Augen. Ein Spiel mit sich und den Betrachtenden. Eine Rolle, die nicht auf Gefallen zielt.
Ich habe meine unliebsamen Photos wieder aus der Versenkung geholt und meine Zensurfreude eingebremst. Das Vor-Bild von Monsieur Depardieu werde ich aufheben, es gibt mir Lust am Altern.

Wie sagt Depardieu im Arikel? "Du bist nur gut, wenn du Dinge machst, die dir selbst ähnlich sind."
In diesem Sinne werde ich weiter machen mit meiner Metamorphose.

PS: Der lesenswerte Artikel und die leider nur im Detail (sprich als Ausschnitt) wiedergegebenen Bilder des Anstoßes findet man zum Selbsttest im Archiv von DIE ZEIT.

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